In einer Reihe mit zehn Kammerkonzerten wird die Geschichte Berlins von den 1910er Jahren bis heute als eine musikalische erzählt. Zeitgenössische Musikgeschichte wird zu Geschichte gemacht, über zwei Weltkriege und fünf Staatsformen hinweg. Jeder der zehn Abende von »UA Berlin« steht für eine Dekade, bei dem ein in diesem Jahrzehnt in Berlin uraufgeführtes Werk als Kern den programmatischen Auslöser bildet. Diese Aufzählung der Ideen und für jeden Abend individuellen Konzepte ist in ihrer Kürze und Unvollständigkeit freilich nur eine Kostprobe, die Lust machen soll, mehr darüber zu lesen, zu erfahren und vor allen Dingen auch zu hören.
Arnold Schönberg (1874-1951): Pierrot Lunaire op. 21 (UA Berlin 1912)
Hanns Eisler (1898-1962): Palmström op.5 (1925)
Florian Wessel (*1991 ): absinthe (2020, UA)
Enno Poppe (*1969): Gelöschte Lieder (1996-99)
Zafraan Ensemble
Sopran: Eva Resch
Dirigent: Miguel Pérez Iñesta
Es beginnt, etwas anderes wäre auch nicht denkbar, direkt mit einem Schwergewicht, man könnte sogar sagen – ginge es nicht um Musik des 20. Jahrhunderts –, mit einem Hit: Pierrot Lunaire von Schönberg. Den fand schließlich sogar Puccini bravo. Aber auch Hanns Eisler, dem wir später sicherlich nochmal begegnen werden, war so angetan, dass er den Pierrot als Blaupause für seine Vertonung von Morgensterns Palmström hernahm. Und er blieb nicht der letzte; die Stimmbehandlung und die Besetzung von Schönberg beeinfusste die Ensemble- und Vokalkomposition über alle Maßen und Zeiten, selbst bis zu Enno Poppe, 85 Jahre später. Mit seinem Quintett Gelöschte Lieder imitiert er das zyklische Kreisen des Lieds, ohne dass es als Schema erstarrt. Materialebenen durchkreuzen vespielt einander, „Heil‘ge Kreuze“ verleihen leuchtende Farben, die schimmern, aber nicht dissonnieren. „Man könnte meine Akkorde vielleicht als verbogene Spektralakkorde bezeichnen“, resümiert Poppe, „oder als verbeulte Natur.
Stefan Wolpe (1902-1972): Piano Sonate N°1 ‘Stehende Musik’ (UA Berlin, 1927)
Anton Webern (1883-1945): Quartett op. 22 (1928-1930)
Ursula Mamlok (1923-2016): From My Garden (1983)
Morton Feldman (1926-1987): Durations 1 (1960)
Ursula Mamlok (1923-2016): Five Bagatelles (1988)
Simon Phillips (*1973): Pent (2020, UA)
Der 19. Musikabend der „Novembergruppe“ am 2. Mai 1927 im Berliner Voxsaal war der Urauführung von drei 1. Sonaten für Klavier gewidmet, darunter auch Stefan Wolpes. Das Publikum, in dem sich unter anderem Hanns Eisler und Arthur Schnabel befanden, las im Programmheft, dass hier das Thematische und Modulatorische zugunsten rein rhythmischer und dynamischer Gestaltung in den Hintergrund treten soll. Formale Spannungen und Entspannungen sollen hier aus dem Prinzip der Wiederholung entwickelt werden, eine „stehende Musik“ sollte entstehen. Nur in Berlin bleiben durfte sie nicht. Nachdem die Nazis 1933 den Cartoonisten Willi Wolpe inhaftierten und ein Auge ausschlugen, war auch für en Bruder Stefan als Jude und Kommunisten alles nur noch eine Zwischenstation. In Wien angekommen nimmt er Unterricht bei Webern, in Palästina will das keiner wissen oder hören, und so beginnt er seine letzte Ankunft 1938 in den USA. Dort wird er zu einem gefragten und angesehenen Lehrer, und unter seinen Schülerinnen und Schülern fnden sich nicht nur David Tudor und Morton Feldman, sondern auch die Berlinerin Ursula Mamlok. 1939 emigrierte sie von Berlin nach Ecuador und erhielt 1940 ein Stipendium für New York. Hier studiert sie bei Stefan Wolpe, der einen nachhaltigen Einfuss auf ihr Komponieren hat. 2006 kehrt Ursula Mamlok nach Berlin zurück.
Wäre der Kreis nicht für immer zerbrochen, so hätte er sich geschlossen.
Igor Stravinsky (1882-1971): Duo concertante (UA Berlin 1932
Paul Dessau (1894-1979): 1 . – 3. Satz aus : Suite für Altsax., Klavier (1935, UA ) Berlin 1989)
Paul Dessau (1894-1979): Main Herz, main Herz für Gesang nach einer jiddischen Volksweise (1936)
Rudolf Wagner-Régeny (1903-1969: Liebeslied (1950)
Etienne Haan(*1992): Standing for/by
Paul Hindemith (1895-1963) Solo – Arioso – Duett aus: Trio für Klavier, Viola und Tenorsaxophon op. 47 (1928)
Darío Guerrero (*1987): Tres Intensidades (UA)
Carl Orf (1895-1982): aus: Musik für Kinder (1930-1935, Neufassung 1950- 1954)
In den 1930ern fiegt es auseinander. Eben noch hört Berlin eine Urauführung des weltberühmten Stravinsky, und plötzlich ist alles anders. Viele gehen, manche gehen in sich, und ‚arrangieren‘ bekommt eine Bedeutung außerhalb des Musikalischen. Paul Dessaus 1935 komponierte Suite wird erst 1989 uraufgeführt, da hören wir dann auch die restlichen Sätze. Rudolf Wagner-Régeny kommt so durch und bleibt nicht unverwundet. Paul Hindemith hat viele Schüler allerorten und gründet dennoch keine Tradition. Den Rekord der meisten Schülerinnen und Schülern aber hält bis heute ein Komponist: Carl Orf. O fortuna…
Hanns Eisler (1898-1962): Hymne der Deutschen Demokratischen Republik (UA Berlin 1949) Arr. für Streichquartett
Günter Kochan(1930-2009): 5 Sätze für Streichquartett (1961)
Ruth Zechlin (1926-2007): Streichquartett N°6 (UA Berlin 1978)
Paul-Heinz Dittrich (*1930): Singbarer Rest (nach Paul Celan) (1987)
Grégoire Simon: iogi-jogi (UA Berlin 2021)
Joseph Haydn (1732-1809): Kaiserquartett C-Dur Hob. III:77, 2. Satz
Vielleicht war Auferstanden aus Ruinen das bekannteste, wenn nicht doch meist gespielte Werk eines Komponisten der Neuen Musik des 20.Jahrhunderts, und wie es sich für deutsche Hymnen gehört, erklingt es hier als Streichquartett. Nach seinem Komponisten, Hanns Eisler, wurde die
Hochschule für Musik in Ost-Berlin benannt. Seine Meisterklasse hatte er an der Akademie der Künste Ost inne, wie auch später Paul-Heinz Dittrich, der Meisterschüler von Eisler und Blacher (siehe oben) war, später selbst einer Meisterklasse vorstand, ebenso Ruth Zechlin, die wiederum Schülerin von Dessau war. Das könnte ewig so weitergehen. Hanns Eisler blieb übrigens bis zu seinem Tod österreichischer Staatsbürger.
Karlheinz Stockhausen (1928-2007): Refrain (UA Berlin 1959)
Friedrich Goldmann (1941-2009): Linie, Splitter (1996)
Rodrigo Bauza (*1983): Infra-ordinaire (UA Berlin 2021)
Charlotte Seither (*1965): Tre acque con ombre (2013)
Geschichte kann über anekdotische Details erzählt werden, Musikgeschichte erst recht, und hier fällt beides zusammen. 1959 nimmt der ostdeutsche Komponist Friedrich Goldmann an einem Kompositionsseminar von Stockhausen bei den Darmstädter Ferienkursen teil. Die gegenseitige Begeisterung veranlasst Stockhausen, Goldmann für die Jahre 1961 und 1962 persönlich nach Darmstadt einzuladen. Die Reisen aber werden von der SED unterbunden. Ein Briefwechsel, eine Briefreundschaft zwischen den beiden entsteht, wie sie exemplarisch ist für viele Verbundenheiten zwischen Ost und West. Goldmann wird selbst zu einem bedeutenden Lehrer, dessen Schülerinnen und Schüler, zu denen auch Charlotte Seither gehört, Legion und Legende sind. So trägt diese Biographie in ihren Details die Traurigkeit der Teilung ebenso in sich wie die (Er)Lösung nach dem Fall der Mauer, die Linien und die Splitter.
Boris Blacher (1903-1975): Quartett Nr. 5 Variationen über einen divergierenden C-Moll Dreiklang
(UA Berlin 1967)
Klaus Huber (1924-2017): Beati pauperes I (1979)
Michaela Catranis (*1985): fauna-X (UA Berlin 2021)
Isang Yun (1917-1995): Klaviertrio (UA Berlin 1973)
George Crumb (*1929): Madrigals, Book III-IV (1969)
Zafraan Ensemble
Sopran: Eva Resch
Als Komponist ist er, wenngleich gänzlich zu unrecht, den meisten nur ein lexikalischer Begrif, als Kompositionslehrer jedoch bleibt er vielen die wichtigste Persönlichkeit: Boris Blacher. Seine Schülerinnen und Schüler an der Hochschule der Künste sind ebenso Legende (Huber, Yun und Crumb wurden beinahe zufällig daraus gewählt) wie seine Ofenheit gegenüber allen
kompositorischen Möglichkeiten, weil das ja auch einander bedingt. In den 60ern weitet er, der in West-Berlin jede nachkriegsneu gegründete Kulturinstitution traditionell mit einer eigens komponierten Bläser-Fanfare eröfnet, seine Poetik zur elektronischen Musik hin aus und arbeitet eng mit dem Elektronischen Studio der TU Berlin zusammen. Noch ein weiterer Schritt, wie all jene, aus denen seine Studentinnen und Studenten eigene Fußstapfen machen und ganze und ganz eigene Wege beschreiten.
Paul Dessau (1894-1979): Grasmückenstücke für Mücke Gras (UA Berlin 1974)
Ruth Zechlin (1926-2007): Mobiles für Harfe Solo I (1978, UA Berlin 2021)
Georg Katzer (1935-2019): Dialog imaginär 6 „Stockendes Lied“
Friedrich Schenker (1942-2013): Hörstück mit Flöten (1976)
Marta Liisa Talvet: (*1998): A Dream of Blowing Glass (UA 2021)
Stephan Winkler (*1967): Zigzag2death (2002, UA Berlin 2003)
Da hätte man eigentlich die ganzen zehn Konzerte nur mit Paul Dessau, seinen Schülerinnen und Schülern und deren Schülerinnen und Schülern füllen können und wäre immer noch nicht komplett. Oder man hätte zehn Abende nur über Paul Dessau gesprochen und wäre gerade mal in der Mitte des Lebens. Deswegen gibt es nur eine dramaturgisch begründbare Auswahl, bestehend aus dem Lehrer, der Schülerin, dem letzten Schüler und einem Schüler der Schülerin. Und elektronische Musik sollte schließlich auch mal. Und mehr Zeit wäre auch schön. Dann könnten wir am späten Abend noch in die wundersame Platte Nachts in schwarzer Seilbahn nach Waldpotsdam reinhören, die der Schülerin-Schüler-Schüler (Dessau-Zechlin-Herchet) Stephan Winkler mit Max Goldt aufgenommen hat. Machen wir aber wahrscheinlich trotzdem, wegen der Verzweigungen schon.
Thierry Blondeau (*1961): Quintette Luftbrücken (UA Berlin 1989)
Jonathan Harvey (1939-2012): Three Sketches (1989, UA Berlin 1991)
Paul Dessau (1894-1979): 4. Satz aus: Suite für Altsaxophon (1989, UA Berlin 1990)
Iris ter Schiphorst (*1956): Ballade für einen Bulldozer
und Klavier (1935, UA Berlin 1989)
Matan Porat (*1982): I cannot take this anymore (UA Berlin 2021)
Isabel Mundry (*1963): again and against (UA Berlin 1989)
Wenn 80er und Berlin, dann doch direkt 1989 und was da komponiert, uraufgeführt, in Auftrag gegeben wurde. Still ist es teilweise und bescheiden und bewusst. Das hätte allem gut getan. Auch begegnen uns Paul Dessau und seine 1935 geschriebene Suite wieder, deren erste drei Sätze 1989 zum ersten Mal öfentlich erklangen und deren 4. Satz heute endlich urauführt wird.
Wir komplettieren das vor über 80 Jahren Begonnene. Weil alles zusammen-wächst, was zusammengehört: again. Weil alles zusammen gehört wird und zusammen wächst: against.
Wolfgang Rihm (*1952): In nuce (UA Berlin 1994)
Rebecca Saunders (*1967): Fury (2015)
Mauricio Kagel (1931-2008): Aus dem Nachlass (1986)
Joseph Schwantner (*1943): Velocities (Moto Perpetuo) (1990)
Farzia Fallah (*1980): A Boundless Feast (2021, UA)
Eigentlich kann von Neuer Musik im Berlin der 1990er Jahre nicht erzählt werden ohne mindestens zu erwähnen, was diese Stadt damals zum Zentrum der musikalischen Welt werden ließ: die Clubkultur. Nun hat naturgemäß die akustische Klangwelt mit der elektronischen Tanzwelt wenig bis nichts zu tun – Versuche, beide zu verbinden, sind auch nie von dem gekrönt gewesen, was vielleicht als ‚credibility‘ beschreibbar wäre. Also brechen wir, eingeleitet von Rihm und seiner basslastigen Instrumentierung, via seiner Schülerin Rebecca Saunders und via Joseph Schwantner die Elemente Bass und Drum auf ihre Einzelpositionen auf.
Mark Barden (*1980): Gauze I (2009)
Christophe Bertrand (1981-2010): dall’inferno
Yoav Pasovsky (*1980): Fieber (2010)
Cathy Milliken: A Desperate Adventure and Courage and a Clock (UA 2021)
Eres Holz (*1979): Kataklothes (2015)
Irene Galindo Quero (*1985): Prénom C. (2015)
Als eines der jüngeren Ensembles der Berliner Szene sieht es das Zafraan Ensemble seit zehn Jahren immer auch als seine Aufgabe an, die Geschichte der Neuen Musik in Berlin aktiv mitzugestalten. Mit dem letzten Konzert dieser Reihe macht sich das Zafraan Ensemble nun selbst ein Geburtstagsgeschenk und spielt – beginnend mit Gauze I von Mark Barden, der ersten Urauführungen nach Ensemble-Gründung im Jahr 2009 – eine Auswahl seiner Lieblingswerke, die es im Laufe der zehn Jahre seines Bestehens in Berlin zur Urauführung gebracht hat.